Investing.com - Am Montag herrschte in New York Sturm, während Europas Börsen wegen des Feiertags größtenteils geschlossen blieben. Der S&P 500 rutschte um weitere 2,36 Prozent ab, die Rendite der 30‑jährigen US‑Staatsanleihe sprang auf 4,90 Prozent - ein Plus von mehr als zehn Basispunkten - und der Dollar fiel auf ein Drei‑Jahres‑Tief. Zeitgleich glänzte Gold: Seit Jahresbeginn beträgt der Zuwachs nun über 30 Prozent.
Auslöser des Ausverkaufs war - schon wieder - Washington. Nachdem Fed‑Chef Jerome Powell vergangene Woche mit einem betont straffen Tonfall auftrat, twitterte Präsident Donald Trump: „Powells Kündigung kann nicht schnell genug kommen.“ Am Montag legte er nach, forderte „präventive Zinssenkungen“ und nannte Powell süffisant „Mr. Too Late“. Kevin Hassett, Leiter des Nationalen Wirtschaftsrats, bestätigte, man prüfe formell, ob der Präsident den Notenbankchef entlassen könne.
Powell blieb gelassen. Die Fed‑Unabhängigkeit, betonte er, sei „eine Frage des Gesetzes“; ein Absetzen sei nur „aus wichtigem Grund“ möglich. Mit Chicago‑Fed‑Präsident Austan Goolsbee sprang ihm prompt ein Kollege öffentlich bei. Dass die jüngsten Renditesprünge vor allem aus höheren Realzinsen und nicht aus Inflationserwartungen gespeist wurden, zeigt jedoch: Die Märkte fürchten weniger eine lockere Geldpolitik als den schleichenden Verlust an Glaubwürdigkeit - jenes „exorbitante Privileg“, mit dem die USA seit Jahrzehnten ihre Doppeldefizite finanzieren.
Parallel blieb das Handelstheater auf der Bühne. Trump versuchte es mit Optimismus: „Die Zölle laufen gut, alle wollen verhandeln.“ Tatsächlich? Vizepräsident Vance meldete aus Indien „signifikante Fortschritte“, in Tokio mahnte Premierminister Fumio Ishiba: „Wenn Japan sich auf alles einlässt, verlieren wir unsere Interessen.“ Mexikos Präsidentin Claudia Sheinbaum sieht vor der Deadline Anfang Mai „noch keine Einigung“, und aus Peking kam die unverblümte Warnung, keinesfalls „ein Abkommen auf Kosten Chinas Interessen“ zu schließen. Klare Durchbrüche? Fehlanzeige.
Hier kommt Nicholas Colas, Co‑Founder von DataTrek Research, ins Spiel. Er ordnet die Angst vor einem erneuten Abtauchen des S&P 500 unter die Marke von 4.983 Punkten - dem Tief vom 8. April - in ein größeres Geschichtsbild ein.
„Die moderne Börsenfolklore, laut der jedes Krisentief noch einmal getestet werden muss, beginnt mit dem 19. Oktober 1987“, so Nicholas Colas.
Damals brach der S&P 500 an einem Tag um 20 Prozent ein, erholte sich kurz, testete Anfang Dezember die Tiefs - sogar 0,4 Prozent darunter - und legte anschließend 10 Prozent bis Jahresende zu. Das „All‑Clear‑Signal“ war gegeben, 1988 stieg der Index weitere 16,5 Prozent.
Doch, so Colas, „viele Tiefs brauchten gar keinen zweiten Akt“: Weder das Tal der Tech‑Krise (9. Oktober 2002) noch das End‑Gefälle der Finanzkrise (9. März 2009) oder das Pandemie‑Tief (23. März 2020) wurden später unterboten.
Warum manchmal ja, manchmal nein?
„Echte Böden entstehen, wenn Politik‑Änderungen genügend Klarheit schaffen - oder zumindest Grenzen des Problems sichtbar machen.“
1987 reichte eine schroffe Fed‑Garantie für das Bankensystem, 2002 nahmen beschlossene Irak‑Mandate die Unsicherheit, 2009 und 2020 half fiskalischer XXL‑Stimulus.
Für heute bedeutet das: Ein erneuter Rückfall auf das April‑Tief ist laut Nicholas Colas „sehr wahrscheinlich - und psychologisch wichtig“, denn er prüft, „ob Investoren bereit sind, auf dem gleichen Niveau wieder einzusteigen.“ Aber das werden sie nur tun, „wenn sich die politische Lage genug verändert hat, um die Aussicht auf positive künftige Renditen zu verbessern.“ Bleibt diese Veränderung aus, „wird der Retest fast sicher scheitern.“
Colas bringt es auf den Punkt: „Die Vielzahl an Unsicherheiten, die derzeit durch die Kapitalmärkte wirbelt, macht einen Retest wahrscheinlich. US‑Large‑Caps werden dieses Niveau nur halten, wenn die Regierung ihre Rhetorik im Handelsstreit zurückfährt oder zumindest Fortschritte in den Verhandlungen vorzeigen kann - also wieder Vertrauen in berechenbare Politik schafft. Und ja, es würde auch helfen, wenn das Weiße Haus seine Drohungen gegen Powell einstellt.“ Andernfalls droht der Durchschlag nach unten.
Colas schaut nicht nur auf Aktien, sondern auch auf die riskanteste Ecke des US‑Kreditmarkts: CCC‑geratete Unternehmensanleihen. Der Aufschlag dieser Papiere gegenüber Treasuries - der Spread - gilt als Frühwarnsystem für Rezessionsängste.
Quelle: DataTrek und FRED
2015/16 kratzten die Spreads an 20 Prozentpunkten.
März 2020 stiegen sie auf rund 19 Punkte.
2022 lagen sie bei 10 bis 13 Punkten - mitten im Zinsschock.
Dieses Jahr schwankten sie von 6,9 Punkten (Januar) bis 11,4 Punkten (7. April) - aktuell: 10,6 Punkte.
„Die schwächste Kreditqualität spiegelt die gleichen Sorgen wie der Aktienmarkt wider: viel Makro‑Nebel, aber keine Kapitulation“, resümierte Nicholas Colas.
Mit anderen Worten: Ganz Amerika ist (noch) nicht im Krisenmodus, doch die Risikoklasse mit dem dünnsten Polster riecht bereits den Gegenwind - vor allem, weil sich hochverschuldete Firmen bei steigenden Zinsen schwerer refinanzieren.
Kurzfristig bleibt die Bühne rutschig. Ein erneuter Rutsch Richtung 4.983 Punkte könnte jederzeit ins Skript geschrieben werden, solange Handels‑ und Fed‑Drama die Schlagzeilen bestimmt.
Mittelfristig hängt alles an politischer Berechenbarkeit. Verstummen die Drohungen gegen Powell und zeichnet sich bei den Zöllen auch nur ein Mini‑Kompromiss ab, dürfte ein Retest - wenn er kommt - halten.
Langfristig mahnt Colas Gelassenheit: „Weder Aktien noch Unternehmensanleihen haben die Hoffnung auf einen positiven Ausgang in beiden Bereichen ganz aufgegeben, was optimistisch stimmt. Jetzt fehlt nur noch das Licht am Ende des Tunnels, um diesen Optimismus zu untermauern.“
Bis dahin gilt: Gold glänzt, der Dollar schwächelt, Ramschanleihen blinken gelb - und an der Wall Street sorgt ein Mann mit X bzw. Truth Social‑Account für mehr Volatilität als zehn Konjunkturberichte zusammen.
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